Die Spielzeugtiere der Sowjetunion betrachten wir mit staunendem Interesse als kulturelles Phänomen einer vergangenen Ära, als künstlerischen Ausdruck eines neuen Lebensgefühls, als Bekenntnis zur Moderne und als industrielles Massenprodukt für breite Bevölkerungsschichten. Sie waren aber vor allem und zu aller erst eine Freude für kleine Kinder. In einer Zeit, in der weder von Weichmachern noch vom Ozonloch die Rede war, verbanden sich viele Zukunftserwartungen mit einer leistungstarken chemischen Industrie. Die preiswerten bunten Tiere aus Zelluloid, PVC und Gummi sorgten auch in schwierigen Zeiten materiellen Mangels und gesellschaftlichen Stillstands bei den Kindern für unbeschwerte Glücksmomente. Wir freuen uns sehr, wenn wir Fotodokumente erhalten, die Kinder mit ihren Spielzeugtieren zeigen.
Autor: Sebastian Köpcke
Ein Leben für die Tiere
Während der Blockade Leningrads besuchte Natalia Tyrkova (1928 – 2015) eine Berufsschule und arbeitete zugleich als Dreherin in einer Waffenschmiede, die Bauteile für den Raketenwerfer »Katjuscha« fertigte. Sie wurde mit der Medaille für die Verteidigung Leningrads geehrt. Ab 1945 studierte sie an der Kunsthochschule. Seit dieser Zeit war sie mit all den künftigen Spielzeuggestaltern der Leningrader Künstlerszene bestens bekannt. 1953 ging sie für ein Jahr an das Institut für Spielzeuggestaltung in Zagorsk. Im weiteren Verlauf ihres Berufslebens arbeitete sie für die Gummiwarenfabrik »Krasnyj Treugolnik«, aber auch für OHK Leningrad und andere Hersteller in der Sowjetunion. Natalia Tyrkovas Fähigkeit, Spielzeugtieren einen eigenen Ausdruck zu verleihen, zeugt von einem umfassenden Naturstudium und von einem tiefen Verständnis der Dinge. Blieben ihre frühen Entwürfe in den 1950er und 1960er Jahren noch nah am realistischen Vorbild, fand sie fortan mit gestalterischem Mut zu immer reduzierteren Formen. In ihren letzten Lebensjahren widmete sich Natalia Tyrkowa mit zahllosen Zeichnungen und Aquarellen ihrer großen Liebe, den Katzen. In ihrem Haus vor den Toren Leningrads fanden sich einige ihrer frühesten Tierzeichnungen, die sie während des Krieges ihrer Mutter aus dem Krankenhaus sendete.
Puppen der Kindheit
In ihrem neuen Buch stellt Daria Soboleva die wichtigsten Protagonisten der Leningrader Spielzeuggestalter vor. Sie alle studierten nach dem Krieg an der Hochschule für Angewandte Kunst und waren später angestellt oder auch freischaffend in der Spielwarenindustrie tätig. Das Buch gibt auf 60 Seiten erstmals einen Überblick über jene Künstler, deren Arbeiten ganze Generationen von Kindern prägten. »Puppen der Kindheit – Leningrader Skulpturen für Kinder« – Boris Worobjew, Marianna Motovilova, Lev Razumovsky, Lev Smorgon, Galina Sokolova, Aelita Sylova, Natalia Tyrkova, Tamara Fedorova. | Kontakt Daria Soboleva
Krasnyj Treugolnik
Das »Rote Dreieck« liegt am Rande von Petersburg. Bereits im Jahre 1860 von einem Hamburger Kaufmann gegründet, entwickelte sich das russisch-amerikanische Gummiwerk Treugolnik am Obvodny Kanal zu Europas größtem Gummiproduzenten. Gummischuhe aller Art standen auf dem Programm. Mehr als 20 Millionen Paar liefen im Jahre 1912 vom Band. Während des I. Weltkrieges wurden auch Autoreifen und Gasmasken produziert. In den Jahren nach der Revolution wurde das Werk verstaatlicht. Fortan hieß es Krasnji Treugolnik (Rotes Dreieck). Neben Schuhen wurden nun auch Gummi- und Kautschukteile für sämtliche Industriezweige produziert. Während der deutschen Belagerung Leningrads (1941 – 44) war der Betrieb wiederum für die Rüstungsproduktion bedeutsam. Erst nach dem Wiederaufau der stark zerstörten Fabrikanlagen wurden seit den 1950er Jahren auch Spielwaren hergestellt. Natalia Tyrkova und Galina Sokolova verbrachten ihr ganzes Berufsleben damit, wunderbare Tiere und Figuren aus Gummi zu gestalten. Heute werden in dem weitläufigen Areal keine Gummiprodukte mehr produziert. Autoschrauber und junge Kreative haben sich darin ihren Platz erobert. Der größte Teil des imposanten Werkes ist jedoch dem Verfall preisgegeben, ein Ort der Erinnerung an bessere Zeiten.
Authentische Orte
Bei manchen Begegnungen in Sankt Petersburg traf ich auf historische Spielzeugtiere. Einige zeigen wir bereits in unserer Ausstellung. Andere waren neu und uns gänzlich unbekannt. Auch Entwurfsmodelle aus Gips und Modeliermasse, tatsächliche Unikate, bekam ich zu sehen. Tiere aus Zelluloid konnte ich neben Büsten von Boris Worobjew fotografieren, seltene Spielzeuge und Modelle am Arbeitsplatz von Lev Razumovsky. Daria Soboleva zeigte mir in ihrer Werkstatt restaurierte Modelle von Natalia Tyrkova und im einstigen Wohnhaus der Künstlerin begegneten mir Frosch und Hase, sowie eine Katze, die ich nie zuvor gesehen hatte.
Persönliche Begegnungen
In Sankt Petersburg besuchte Daria Soboleva mit mir Michael Worobjew, den Sohn des Bildhauers und Malers Boris Worobjew. Er war ein sehr großzügiger und warmherziger Gastgeber und er gab einen tiefen Einblick in das Leben seines Vaters. Wir trafen Elena und Maria Razumovskaya, Frau und Tochter des Bildhauers und Malers Lev Razumovsky, die das Angedenken an ihn sehr in Ehren halten und ich konnte sehr seltene Spielzeuge am Arbeitsplatz des Künstlers fotografieren. Wir besuchten den Maler und Bildhauer Lev Smorgon in seinem Atelier, dass ich bereits von Bildern kannte und es war ein großartiges Gefühl, dieser imposanten Erscheinung in seinem Refugium nun persönlich gegenüber zu stehen. Galina Tyrkova begrüßte uns im kleinen Haus ihrer Schwester Natalia, die im November 2015 verstarb. Es war sehr berührend, dort alte Fotografien anzuschauen und Briefe mit frühesten Tierzeichnungen, die Natalia während des Krieges aus dem Krankenhaus an ihre Mutter sendete. Wir trafen auf dem Roten Platz in Moskau Sergey Romanov, den erfolgreichsten Privatsammler von russischem Spielzeug, bevor wir den Nachmittag und einen wunderbaren Abend beim großherzigen Adolf Neystat und seiner Frau Inna Khodzhaeva verbrachten, bis uns der Nachtzug wieder nach Sankt Petersburg brachte. Im Museum der Kindheit in Leningrad nahm sich die Direktorin Irina Gumel für uns Zeit und zudem trafen wir den Fotografen und Journalisten Eugen von Arb und die Ausstellungskuratorin Anna Lebedkova im Club der Galerie Borej zu einem sehr herzlichen und anregenden Gespräch.
Unterwegs mit Daria Soboleva
Die Freundschaft mit Daria Soboleva ist für uns ein wahrer Glücksfall. Die stille bescheidene Frau ist im weltweiten Web nicht leicht zu finden. Seit wir dennoch miteinander in Kontakt kamen, hat sie uns ohne Vorbehalt an ihrem Wissen teilhaben lassen und unsere Ausstellung maßgeblich unterstützt. Sie ist die Erste, die sich mit Ernst und Sachverstand der einstigen Leningrader Spielzeugindustrie zuwandte und dabei renommierte Künstler ihrer Heimatstadt als innovative Gestalter ausfindig machte und mit ihnen ins Gespräch kam. Zu Lev Smorgon, Lev Razumovsky und Marianna Motovilowa hat sie bereits biografische Schriften publiziert. Bei meinem Besuch in Sankt Petersburg durfte ich einen ersten Blick in ihr neues Buch »Leningrader Skulpturen für Kinder« werfen, dass die exponiertesten Künstler der Leningrader Schule sehr ausführlich behandelt. Es war eine große Freude, Daria endlich persönlich zu begegnen und sie nahm sich eine ganze Woche Zeit, um mit mir ein straffes Programm zu absolvieren, dass sehr persönliche Begegnungen mit hochbetagten Spielzeuggestaltern oder aber auch mit deren Hinterbliebenen ermöglichte. Wir besuchten zudem bei Wind und Wetter die Industrieruinen der Gummiwarenfabrik Krasnyj Treugolnik (Rotes Dreieck), die Hochschule für Angewandte Kunst, an der die Spielzeuggestalter einstmals studiert hatten und auch das Museum der Kindheit in Leningrad, in dem mir Daria sehr anschaulichen Einblick in die Lebenswirklichkeit der Vergangenheit gab. So zeigte ein historisches Foto eine junge Frau, die ihrer Nichte eine Puppe kaufte – kurz bevor sie während der deutschen Blockade mit 19 Jahren an Hunger starb. Eine gemeinsame Tagesreise nach Moskau machte es zudem möglich, Adolf Neystat zu begegnen und ihm endlich persönlich zu danken für all die handgefertigten Entwurfsmodelle, die er mir zum Geschenk gemacht hat. Es waren sehr ereignisreiche Tage, die in unsere Ausstellung einfließen werden. Daria Soboleva möchten wir einmal mehr sehr herzlich danken, dass sie all das organisiert und ermöglicht hat.
Schatzsuche in Sankt Petersburg
Vom 1. bis 7. Juli 2016 begab sich Sebastian auf Reisen nach Sankt Petersburg. Es war ein Wiedersehen mit einer Stadt, die beim letzten Besuch vor mehr als 30 Jahren noch Leningrad hieß. Der alte Revolutionär grüßt noch immer in der ganzen Stadt von hohen Sockeln herab. Neu im Stadtbild sind Gucci, Prada und McDonalds. Spielzeug aus sowjetischer Zeit kann man nunmehr auf dem Trödelmarkt finden. Die prall gefüllten Läden offerieren heute das standardisierte Sortiment der westlichen Welt. Spielwaren aus russischer Produktion sind davon nicht mehr zu unterscheiden.
Der Tradition verpflichtet
Birkenwälder, Holzhäuser, Wiesen am Fluss – wenn es eine typisch russische Landschaft gibt, dann findet sich diese in den Bildern des Malers Anatoli Borisov (1944 – 2015). Er wagte weder das Experiment, noch suchte er nach Extremen. Seine künstlerische Heimat fand er in der Einfachheit des ländlichen Lebens und im Traditionellen. Geboren wurde Borisov im Dorf Aleksandrovka im Bezirk Orjol. Von 1965 bis 1969 studierte er an der Fachschule für industrielle Spielzeuggestaltung in Zagorsk. Seit seinem Studium lebte er in Vologta, wo er bis 1980 als Gestalter bei der örtlichen Spielzeugfabrik arbeitete. Das stolze Pferd von Anatoli Borisov hat seinen Platz in unserer Ausstellung. Mit wilder Mähne und wehendem Schweif scheint das stolze Tier geradewegs einer von Borisovs Landschaften entsprungen. Tatsächlich aber zeigt es das bucklige Pferdchen aus dem russischen Märchen – endlich von seinem Fluch befreit.
Querverbindungen
Die »Akkordeon-Tiere« und auch die aufblasbaren Spielfiguren der tschechischen Gestalterin Libuše Niklová zählen heute längst zu den Ikonen des modernen Designs. Das MoMa in New York widmete ihr 2011 bereits eine eigene Ausstellung. 1934 in Zlín geboren, absolvierte sie dort von 1949 bis 1953 ein Studium der angewandten Kunst. Bis 1960 arbeitete sie für die Firma Gumotex in Breclav. Bis zu ihrem frühen Tod im Jahr 1981 war sie dann bei Fatra in Napajedla als Spielzeuggestalterin tätig. Offenbar gab es in den 1960er und 1970er Jahren Kooperationen mit sowjetischen Produktionsbetrieben, denn wir fanden ihre berühmte Katze, produziert bei Wiatka in Kirow, und ihren Löwen, produziert bei Plastpolymer in Leningrad. Dank dieser internationalen Querverbindungen haben auch die Tiere von Libuše Niklová ihren festen Platz in unserer Ausstellung.